Zeitschrift „Gralswelt“
September / Oktober 2009

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„Ich kann nicht hören, aber horchen!“

Wie eine gehörlose Frau ihr Leben meistert. Buchautorin Sarah Neef im GralsWelt-Interview.

Von Michael Oort.


Wie ist es, wenn man taub geboren wird und von den Lippen lesen lernen muss? Wird man mit vielen Vorurteilen konfrontiert, vielleicht sogar als zurückgeblieben oder dumm eingestuft? Welche Fähigkeiten kann man sich erarbeiten? Sarah Neef (27) gibt auf solche Fragen in ihrem packenden Buch „Im Rhythmus der Stille“ Antwort. Und sie lebt vor, wie man sich trotz Hörbehinderung sogar Fähigkeiten aneignen kann, die man üblicherweise nur Normalhörenden zuschreibt: Fremdsprachen lernen, Studieren, Musik hören, Tanzen …

GralsWelt: Was hat sie dazu veranlasst, Ihr Buch „Im Rhythmus der Stille“ zu schreiben? Gab es einen bestimmten Auslöser?
Neef: Ich habe mir schon sehr früh überlegt, ein Buch zu schreiben, ich wollte vermitteln, wie es ist, wenn man nicht hören kann. Denn ich hatte schon oft festgestellt, daß es Missverständnisse zwischen Gehörlosen und Hörenden gibt. Zunächst kam ich über ein paar Sätze nicht hinaus. Aber 2001 wurde dann ein Dokumentarfilm über mich gedreht, daraufhin kamen Verlage auf mich zu – und daraus wurde ein konkretes Projekt.

GralsWelt: Was bedeutet es für Sie, taub zu sein? Wie sehen Sie Ihr eigenes Leben im Vergleich zu normal hörenden Menschen?

Neef: Ich habe einen Sinn weniger. Meine Ohren funktionieren eben nicht so, wie sie sollten. Mein Leben gibt mir aber die Möglichkeit, mit meinen anderen Sinnen wachsamer zu sein, und dafür bin ich dankbar. Ich merke, daß ich manches beobachte, was andere Menschen nicht sehen. Meine Taubheit hat mich horchen gelernt, nicht hören, aber mit meinen Antennen wahrnehmen, horchen eben.

GralsWelt: In Ihrem Buch zitieren Sie ein Sketch aus dem Fernsehen, die Geschichte von „Hamham gut?“ Im Rahmen einer kulturellen Veranstaltung ist ein deutscher Herr bemüht, den neben ihm sitzenden dunkelhäutigen Mann in das Gespräch mit einzubeziehen. Der äußerlichen Aufmachung nach zu schließen (einem über und über mit farbenfrohen Mustern bestickten afrikanischen Gewand), muß der Dunkelhäutige aus der Gegend Afrikas kommen, in der die „Zivilisation“ noch nicht viele Spuren hinterlassen hat. Eine Ansprache wird gehalten, die mit dem Zuprosten endet. Der deutsche Herr wendet sich dem Afrikaner zu. „Gluckgluck – gut?“ fragt er. Der Afrikaner antwortet: „Gluckgluck – gut!“ Das Festmahl wird aufgetragen und alle beginnen zu essen. Der deutsche Herr fragt den Afrikaner: „Hamham – gut?“ Der Afrikaner erwidert: „Hamham – gut!“ Das Essen ist vorbei, der Organisator der Soiree erhebt sich und kündigt an, daß er einen Ehrengast vorstellen möchte, der viel zur kulturübergreifenden Zusammenarbeit der Firma beigetragen hätte, und würdigt seine Leistungen. Unter Beifall erhebt sich der Afrikaner. In perfektem, fließendem Deutsch hält er eine Dankesrede, die einen wortgewandten und hochintelligenten Menschen offenbart. Der deutsche Her neben ihm ist grenzenlos erstaunt. Ein wenig schämt er sich auch. Nachdem der Afrikaner seine Rede beende hat, setzt er sich wieder neben seinen deutschen Sitznachbarn und fragt diesen:
„Blabla – gut?“ Inwieweit läßt sich das mit Ihrer Situation vergleichen?

Neef: Das war nur ein Sketch im Fernsehen, aber sinngemäß erlebe ich Ähnliches immer wieder! Wenn Menschen von meiner Gehörlosigkeit wissen, aber mich selbst noch nicht kennen, reden sie manchmal mit mir, als sei ich ein geistig zurückgebliebenes Kleinkind. Sie sprechen in Telegrammstil, stichwortartig, in abgehackten Sätzen. Ich muß mich dann sehr konzentrieren, um zu verstehen, was sie eigentlich meinen.

GralsWelt: Taub wird also in vielen Fällen gleichgesetzt mit „dumm“!

Neef: Ja, das zeigt in manchen Sprachen sogar der Wortursprung, ich glaube, auch im Niederländischen.

GralsWelt: Da haben Sie recht, ich bin Niederländer, und in meiner Muttersprache ist das Wort für taub „doof“, also blöd. Auch im Deutschen kommt das Wort „taub“ von „toub“, was früher sowohl „gehörlos“ als auch „dumm“ bedeutete.

Neef: Ja, es ist schon interessant, wie das abgeleitet wird! Aber es wird langsam Zeit, zu zeigen, daß es anders ist, nicht nur für mich!

GralsWelt: Sie haben die Gebärdensprache nie gelernt, sondern nur das Lesen von den Lippen, also die Lautsprache. War das eine bewusste Entscheidung?

Neef: Meine Eltern und Freunde konnten nur die Lautsprache, und es war mir wichtig, mich darauf zu konzentrieren. Wenn man die Wahl hat, entscheidet man sich eher für die Gebärdensprache als für die Lautsprache, da dies viel bequemer ist. Die Gehörlosen, die ich kannte, konnten auch alle die Lautsprache. Ich habe mir schon überlegt, auch die Gebärdensprache zu lernen, aber es hat sich bislang noch nie ergeben. Wenn ich irgendwann eine psychologische Praxis eröffne, dann werde ich zusätzlich die Gebärdensprache lernen, als Brücke zu Gehörlosen, um helfen zu können. Das wäre dann ein konkreter Anreiz, bislang habe ich sie einfach nicht gebraucht.

GralsWelt: Nein, Sie brauchen die Gebärdensprache tatsächlich nicht! Fühlen Sie sich eigentlich behindert?

Neef: Nein, wenn, dann ist es das Umfeld, das mich manchmal behindert!

GralsWelt: Werden Sie noch immer mit Vorurteilen konfrontiert, wie Sie sie in Ihrem Buch beschreiben? Ich meine zum Beispiel die Situation, als Ihr Lehrer sie zwang, mit ins Kino zu gehen und meinte, Sie könnten sich ja die schönen Naturbilder ansehen. Im Buch raten Sie dazu, einen Selbstversuch zu starten und sich einen Film ohne Ton anzusehen. Sie meinen, man würde das keine halbe Stunde aushalten. Ich habe den Versuch nach knapp zehn Minuten abgebrochen, denn erstaunlicherweise kann man sich nicht nur auf die Bilder konzentrieren!

Neef: Eine solche Situation würde ich mir nicht mehr gefallen lassen, aber es gibt andere Situationen, wo ich einfach darauf hinweisen muss, daß ich so nicht behandelt werden möchte, oder wo ich etwas einfach akzeptieren muss. Ich habe letztes Jahr nach meinem Studium einen Job in der Personalentwicklung gesucht. Mir wurde immer wieder gesagt, aufgrund der Leistung, vom Zeugnis her und so weiter würde man mich sofort nehmen, aber weil ich nicht telefonieren kann, könne man mich nicht einstellen. Aber wenn irgend etwas nicht klappt, dann steckt dahinter immer einen Sinn. So habe ich dann ein Stipendium der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit erhalten und kann damit meine Dissertation schneller beenden.

GralsWelt: Aus Ihrem Buch erfährt man, daß Sie fünf Fremdsprachen sprechen! Könnten Sie schnell reagieren, wenn ich während des Interviews auf einmal die Sprache wechseln würde?

Neef: Wenn Sie jetzt zum Beispiel ins Englische mit den „th“ wechseln, dann würde ich wahrscheinlich erst einmal denken: Warum lispelt er auf einmal? Mein Gehirn würde sich anstrengen, herauszufinden, mit welchen deutschen Wörtern sich das kombinieren läßt, aber dann würde ich schon bemerken, daß Sie in einer anderen Sprache mit mir sprechen. Beim Französischen würde ich das auch sehen, da der Mund wegen der vielen Nasallaute geschlossener ist.

GralsWelt: Wie hören oder, besser gesagt, erleben Sie Musik?

Neef: Ich nehme Schwingungen wahr, als ob mein ganzer Körper wie eine Radarstation alles aufnimmt. Ich habe dann auch sofort den Drang, mich darnach zu bewegen. Tiefe Töne fühle ich in den Beinen und im Bauch, die hohen im Gesicht und auf der Haut. Ich bevorzuge klassische Musik, ein bißchen melancholisch, wie Chopin oder Debussy. In der modernen Musik spüre ich oft fast nur die Bässe, daher ist zum Beispiel Diskomusik sehr unangenehm, das wummert nur.

GralsWelt: In Ihrem Buch bringen Sie zum Ausdruck, daß es ein Geschenk für Sie war, nicht die Gebärdensprache zu lernen. Warum?

Neef: Mein Leben wurde dadurch nicht in engen Bahnen gepresst, mein Horizont ist viel weiter geworden, da ich mit allen Menschen kommunizieren konnte, mit denen ich auch kommunizieren wollte. Ich bin nach wie vor der Meinung, wer die Lautsprache lernen kann, sollte es auch versuchen – eben, weil man dann selbst bestimmen kann. Die Gebärdensprache kann man jederzeit noch zusätzlich lernen, mit der Lautsprache ist es anders, das hat natürlich auch etwas mit der Sprachentwicklung beim Menschen zu tun.

GralsWelt: An einer anderen Stelle im Buch schreiben Sie: „Sie sind äußerst selten, aber es gibt sie doch, es gibt tatsächlich Momente, in denen ich für meine Taubheit dankbar bin.“

Neef: Ja, die gibt es tatsächlich! Wie ich schon sagte, ich habe das Gefühl, daß ich mehr beobachten, mehr wahrnehmen kann. Es gibt auch Situationen, in denen alles so laut ist, daß Hörende nichts mehr verstehen können und ich die einzige, bin die noch etwas mitbekommt. Manchmal ist es auch ein Schutz. Ich kann – wie ich im Buch auch schreibe – Gewaltszenen in Filmen nicht ertragen; ich schließe dann einfach die Augen und bin nur froh, daß ich auch nichts hören kann! Im Restaurant bekomme ich manchmal auch sehr lustige Dinge mit, da ich visuell auch auf große Distanz erfassen kann, was die Menschen sagen!

GralsWelt: Wie stellen Sie sich Ihren weiteren beruflichen Weg vor?

Neef: Ich würde sehr gerne etwas im Bereich „Führungskräfteentwicklung“ tun, wie bereits während meines Studiums bei Daimler. Aber ich könnte mir auch gut vorstellen, eine eigene psychologische Praxis für Hörende und Nichthörende zu eröffnen, um auch damit eine Brücke bilden zu können.

GralsWelt: Ihr Buch vermittelt den Eindruck, daß es Ihnen ein großes Anliegen ist, andere gehörlose Menschen zu ermuntern und sie anzuregen, einen ähnlich aktiven Weg einzuschlagen!

Neef: Auf jeden Fall! Und durch die Beispiele in meinem Buch möchte ich andere Hörgeschädigte auch wissen lassen, daß sie nicht alleine sind in solchen Situationen.

GralsWelt: Haben Sie vor, noch ein zweites Buch zu schreiben?

Neef: Ja, aber das soll etwas ganz anderes werden, nämlich ein Fabelbuch. Ich habe als Kind auch schon sehr gerne Geschichten geschrieben.

GralsWelt: Abschließend würde ich sprachlich noch gerne in den Telegrammstil umschalten. Ich habe mir einige markante Wörter aus Ihrem Buch notiert und bitte Sie, mir spontan zu sagen, was Ihnen dazu einfällt. Das erste Wort ist: kämpfen …

Neef: Das bedeutet für mich „sein“, das Leben selbstbestimmt leben zu können, trotz aller Widerstände nicht aufzugeben. Das habe ich immer versucht.

GralsWelt: Ehrlichkeit …

Neef: Offenheit – und sehr wichtig im Umgang mit Menschen.

GralsWelt: Stolz …

Neef: Das ist ein Begriff, der oft mit einem abwertenden Attribut versehen wird, aber man kann ihn auch anders sehen! Stolz hat etwas mit Charakter zu tun, mit einem gewissen Ehrgefühl.

GralsWelt: Behinderung …

Neef: Das sind Barrieren. Die meisten konnte ich umschiffen, würde ich sagen. Es ist zwar nicht immer einfach, aber es klappt.

GralsWelt: Tränen – Sie erwähnen Sie in Ihrem Buch mehrfach …

Neef: Tränen haben zwei Seiten, deshalb muß ich erst einmal überlegen. Sie sind ein Zeichen der Emotionalität. Man kann weinen, wenn man etwas erreicht hat und froh und stolz ist, oder auch, wenn man traurig ist. Beide Tränen hat es in meinem Leben gegeben.

GralsWelt: Verständnis …

Neef: Mitgefühl und Toleranz, ein sehr wichtiger Baustein für das Zwischenmenschliche.

GralsWelt: Gott …

Neef: Ich glaube an Gott! Der Glaube begleitet mein Leben, ich bin ein gläubiger Mensch.

GralsWelt: Schicksal …

Neef: Ich glaube, dass ich das erlebe, was ich erleben muss. Bei meiner Geburt wurde zweimal die Möglichkeit vergeben, daß ich hätte hören können. Das ist einmal zuviel, um behaupten zu können, es hätte auch anders kommen können! Insofern bin ich schicksalsgläubig, aber ich bin nicht schicksalsergeben. Das ist ein großer Unterschied. Ich nehme mein Schicksal mit meiner Behinderung an, aber ich mache etwas daraus, ich nehme es in die Hand und versuche, das Bestmögliche zu tun.

GralsWelt: Telefon …

Neef (laut lachend): Das ist etwas Abstraktes, mit dem man anscheinend kommunizieren kann!

GralsWelt: Vielleicht haben Sie ein ruhigeres Leben ohne Telefon …

Neef: Vielleicht, ich kann es nicht vergleichen, aber auf dem Handy gehen ja auch SMS ein, und ich habe immer das Gefühl, wenn man etwas bekommt, dann sollte man auch antworten!

GralsWelt: Ungeduld …

Neef: Ups! Das ist meine größte Schwäche, ich bin der ungeduldigste Mensch, den ich kenne! Aber vor allem bin ich mir selbst gegenüber ungeduldig, anderen gegenüber eigentlich nicht. Ungeduld hat für mich allerdings auch mit Gewissenhaftigkeit zu tun, mit Selbsterziehung und auch Anspruch. Beim Lernen und im Studium, auch im Überwinden von Widerständen war ein gewisses Maß an Ungeduld wichtig für mich. Wenn man ungeduldig ist, ist man nicht apathisch, man nimmt nicht geduldig einfach alles hin!

GralsWelt: Das ist ja auch eine Botschaft an Ihre Leser: Nehmen Sie etwas von meiner Ungeduld und verändern Sie etwas, erreichen Sie etwas! Die Beispiele, die Sie bringen, helfen dem Leser auch dabei, über sein eigenes Verhalten zu reflektieren.

Neef: Ich habe schon ein wenig Leserpost bekommen. Es freut mich, dass manche Menschen offenbar nach dem Lesen meines Buches versuchen, bestimmte Lebensumstände zu ändern.

GralsWelt: Noch ein wichtiger Begriff aus Ihrem Buch: vergleichen …

Neef: Im Zwischenmenschlichen beobachte ich, daß so viel Leid entsteht, weil man Menschen miteinander vergleicht. Das wird auch ein Thema meines zweiten Buches werden: warum man nicht vergleichen sollte! Ich habe in gewissem Sinne natürlich auch zum Ausdruck gebracht, daß ich mich mit Hörenden vergleiche – aber nur, um meine Meßlatte höher zu legen.

GralsWelt: Eltern …

Neef: Ich habe meinen Eltern sehr viel zu verdanken! Sie haben mir immer Schutz geboten und immer an mich geglaubt! Sie haben mir immer gesagt: Für jedes Problem gibt’s eine Lösung und es wird immer ein Ausweg gefunden. Das hat mich sehr geprägt. Sie haben mir immer gesagt: Egal, was ich machen möchte, ich soll es einfach tun.

GralsWelt: Herzlichen Dank für dieses Gespräch und Gratulation zu Ihrem beeindruckenden Buch!

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